Die Musik Furtwänglers erforschen und weitergeben

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Ziyu Liu, übersetzt von Jiewei Xiong

Am 9. Mai 2025 fand in der Harbin Concert Hall das Konzert „Melodies of the Masters: Tribute to Furtwängler II, in Commemoration of Dietrich Fischer-Dieskau’s Centennial“ statt.

Unter der Leitung von Martin Fischer-Dieskau, Sohn des legendären Baritons Dietrich Fischer-Dieskau, präsentierte das Harbin Symphony Orchestra gemeinsam mit dem Bass-Bariton Hu Sihao ein Programm mit Vokal- und Orchesterwerken von Wagner und Schumann.

„Im Gegensatz zu der üblicheren Praxis, Komponisten zu fokussieren, haben wir uns entschieden, auch einmal Interpreten früherer Epochen zu ehren, was auf den Konzertpodien der Welt eher selten geschieht. Furtwängler hat sich erst in zweiter Linie als Dirigent definiert, in erster als Komponist, so wie mein Vater, Dietrich Fischer-Dieskau, sich nie mit dem Gesang allein zufriedengeben wollte.“

„Bevor man Dirigent oder Sänger wird, muss man erst einmal Musiker sein – jemand, der den tieferen Sinn hinter der Musik sucht und vermitteln kann und viele andere Voraussetzungen erfüllt. Wie Furtwängler sagte, sollte Dirigieren ausschließlich eine ‚Entwicklung‘ sein und keine ‚Entscheidung‘. Nur ein kompositorisch wie instrumental voll ausgebildeter Musiker kann im Laufe seines künstlerischen Daseins auch zum Dirigenten werden, ein Prinzip, das heute so oft auf den Kopf gestellt wird, indem man die Tätigkeit eines Dirigenten auf seine Armbewegungen reduziert und diese als Alleinkriterium zu seiner Beurteilung heranzieht.“

Mit ähnlichen Erwägungen konnte Martin Fischer-Dieskau dem Konzert eine Sinngebung der besonderen Art verleihen.

Damit kehrte er nach Harbin zurück, wo er im vergangenen November bereits an den 70. Todestag Furtwänglers erinnert hatte. Jetzt sollte dieser künstlerische Ansatz fortgeführt werden: Musik „nach Art Furtwänglers“ zu interpretieren, zum „Zuhören“ statt nur zum „Zusehen“ einzuladen und gewisse verlorengegangene Traditionen natürlicher, aber unmerklicher Temporückungen innerhalb des musikalischen Satzgefüges erkennbar wiederzubeleben. Bemerkenswert ist, dass er das gesamte Programm auswendig dirigierte, eine Praxis, die in der heutigen Dirigentenzunft mehr und mehr zu verblassen droht und in China darüber hinaus ohnehin selten gepflegt wird. Das verlieh der Aufführung eine gesteigerte Intensität und künstlerische Konzentration. Fischer-Dieskaus völliges Vertrauen auf die Verinnerlichung, aber auch auf deren körperlichen Ausdruck förderte einen Modus des interpretativen Dialogs, der dem Orchester wie dem Publikum neue Dimensionen des Nachempfindens eröffnete. Als vielseitig gebildeter und konsequenter Dirigent berief sich Fischer-Dieskau auf eine Metapher Furtwänglers, um seine künstlerische Entscheidung zu erklären: „Man kann Hamlet nicht spielen, während man am Vorlesetische sitzt – man muss selbst zur Figur des Hamlet werden.“ Symphonische Musik ist für Furtwängler nichts Anderes: Keine Epik, sondern Dramatik: Der Dirigent muss selbst zur Musik werden. Das Dirigieren aus dem Gedächtnis bringt also eine tiefere Auseinandersetzung mit der Partitur mit sich, und wenn der Dirigent wirklich eingetaucht ist, wird das Orchester in gleicher Weise mit eingebunden musizieren.

Um Interpreten vergangener Epochen auf die Spur zu kommen, hörte ich von Fischer-Dieskau folgenden Vergleich: „Stellen Sie sich vor, Schauspieler A der Jetztzeit spielt den Schauspieler B der Vergangenheit. Mit anderen Worten: Wenn die Persönlichkeit eines legendären Schauspielers von einem zeitgenössischen Darsteller neu interpretiert wird, erlebt das Publikum eine aufschlussreiche Vielschichtigkeit und Doppelbödigkeit der Interpretation, die allerdings nur wirksam wird, wenn dem Zuhörer/Zuschauer das jeweilige Vorbild ein Begriff ist. Diese Art des künstlerischen Erbes gibt es auch in der Musik – man muss es nur offenlegen dürfen, was praktisch nie geschieht.“

Martin Fischer-Dieskaus Dirigierstil ist in erster Linie einer der Anleitung und nicht der choreographischen Zurschaustellung. Wie zu hören war, sind die körperlichen Gesten des Dirigenten für Fischer-Dieskau kein Selbstzweck, sondern nur in dem Moment von Bedeutung, wo sie zur Verdeutlichung des musikalischen Ausdrucks notwendig werden. Zunächst kann ein Orchester auch ohne Dirigent spielen. Der Akzent für das lauschende Publikum sollte – wir sagten es bereits – auf dem Zuhören im Konzertsaal liegen, nicht auf dem Zuschauen. Dieses Prinzip ist sicherlich auch Teil des Erbes, das er bedingungslos von Wilhelm Furtwängler übernehmen kann.

Eröffnet wurde das Konzert mit dem Vorspiel zu Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. Unter Fischer-Dieskaus Leitung lieferte das Harbin Symphony Orchestra eine flexible und gleichzeitig präzise Darstellung des Werks. Furtwänglers Interpretation zeichnete sich durch bemerkenswerte Klarheit und eine auffallend „undeutsche“ Transparenz aus. Fischer-Dieskau und das Orchester näherten sich diesem Ideal nahezu in Perfektion.

Sowohl die Partitur als auch die Orchesterstimmen des Meistersinger-Vorspiels und der im zweiten Teil des Abends zu hörenden Schumann-Symphonie Nr. 4 d-Moll, stammten aus Fischer-Dieskaus persönlicher Bibliothek. Mehr als einen Monat vor der Aufführung bezeichnete er das gesamte Orchestermaterial akribisch. Er bezog dabei Dynamik- und Tempoanpassungen ein, die in Furtwänglers historischen Aufnahmen nachzuhören sind. Nachdem er diese Einspielungen eingehend studiert hatte, probierte er auch alle Bogenstriche selbst auf Geige und Bratsche aus, um sich anschließend mit seiner Frau, einer Cellistin, auch um die Einrichtung der Cello- und Kontrabass-Stimmen zu kümmern.

Fischer-Dieskaus Interpretation trug schon deshalb unverkennbare Spuren von Furtwänglers Einfluss. So etwa in den Takten 67–71 des Meistersinger-Vorspiels, dem Übergang zwischen Haupt- und Nebenthema: Hier tritt die Trompete mit einer brillanten Fortissimo-Deklamation hervor, die das Orchestergewebe durchschneidet. Die Reprise gegen Ende der Ouvertüre treibt die Musik auf ihren finalen Höhepunkt zu, und zwar in einer Weise, die in ihrer kaum nachahmlichen Steigerung an Furtwänglers legendäre Aufführung bei den Bayreuther Festspielen von 1943 erinnerte. Diese musikalischen Gesten – und es gab deren viele – die beim Publikum hörbares Erstaunen hervorriefen, dienten kaum mehr nur als bloße Huldigung des Meisters, sondern vielmehr als ein Akt lebendiger Fortsetzung inzwischen versunkener Traditionen.

Wagner war, rein anekdotisch, auch ein wichtiges Bindeglied zwischen Wilhelm Furtwängler und Dietrich Fischer-Dieskau. Letzterer sang unter Furtwänglers Leitung immerhin zwei Schlüsselpartien der Wagner-Literatur: Kurwenal in der Aufnahme von Tristan und Isolde mit dem Philharmonia Orchestra 1952 und Wolfram in Tannhäuser live bei den Bayreuther Festspielen 1954, dem Todesjahr Wilhelm Furtwänglers.

Die erste Hälfte des Programms wurde mit den beiden kompakten Monologen aus den Akten II und III der Meistersinger von Nürnberg fortgesetzt, die ausgewählt wurden, um die psychologische Dualität der Figur des Hans Sachs zu verdeutlichen, Vision und Vernunft. Alle Anfänge und Schlüsse dieses Programmteils mussten von Martin Fischer-Dieskau selbst arrangiert werden, da sie dem Gesamtzusammenhang des Musikdramas entstammen.

Hans Sachs war eine der großen Herausforderungen in der späteren Karriere-Phase des Sängers Dietrich Fischer-Dieskau. Obwohl seine Stimme gemeinhin nicht als „Sachs-Stimme“ angesehen werden kann, hinderte ihn das nicht daran, zu liefern, was heute als vollgültige Interpretation in Erinnerung bleibt. In diesem Konzert stand der Bassbariton Hu Sihao, der damit sein Debüt als Wagnersänger gab, vor einer entsprechend gewaltigen Herausforderung. Doch mit seiner einzigartig resonanten Stimme, seiner raffinierten Musikalität und seiner nahezu perfekten deutschen Diktion und Textwiedergabe zog er das Publikum in seinen Bann.

Hus Ton ist voll, solide und resonant und ließ sich auch durch die von Fischer-Dieskau weitgehend abgedämpften Orchestertutti nicht übertönen. In „Wie duftet doch der Flieder“ schwebte seine Stimme durch die hauchdünnen Texturen des Orchesters und verwob sich nahtlos mit der Lyrik der Holzbläser. Im Gegensatz zu Wagners häufig überdimensional voluminöser Stimmgestaltung seiner Protagonisten ist dieser Monolog in sich gekehrt und nachdenklich, und Hus Interpretation strahlte sinngemäße Introspektion und tief empfundene Emotion aus.

Hus Darstellung des folgenden ariosen Auszugs „Wahn! Wahn! Überall Wahn!“ überzeugte zunächst über den nüchternen und eisigen Klängen der Streicher und war danach sowohl als Höhepunkt von Sachs’ dramatischen Gipfelpunkten wie seinem Stimmungsumschwung hin zu philosophischer Abgeklärtheit dienlich. Hus Gesang ist geprägt von ausdrucksstarken Nuancen und emotionaler Bandbreite. Seine Stimme verflocht Momente lyrischer Verschmelzung mit dem Orchester mit angemessen starken Ausbrüchen seiner Vokalkraft. Unter der Leitung von Fischer-Dieskau gelang mit dieser Zusammenarbeit eine Aufführung, die nichts an der gebotenen Intensität vermissen ließ.

Die berühmte Arie des Wolfram „O du mein holder Abendstern“ aus Tannhäuser erfordert ganz andere Qualitäten vom Sänger als die vorausgegangenen Monologe. Hu Sihao bereitete dieser Wechsel keinerlei Schwierigkeiten. Er wurde hier nahtlos zum lyrischen Bariton. Seine sonore Stimmgebung verschmolz eindrucksvoll mit der Kantilene der Cellogruppe. Mit dem Ende der Gesangslinie trat Hu gemessenen Schrittes von der Bühne ab, gleichsam in seinen Träumen als Wolfram versunken, begleitet von einem sanften und kontemplativen Diminuendo des Orchesters.

Als die letzten Töne der Abendstern-Arie in Stille verhallt waren, erhob sich aus eben dieser Stille das Vorspiel zum ersten Akt des Lohengrin. Als eine Art Gipfelwerk der Romantik steigt das Stück von ätherischem Flüstern zu einem majestätischen Höhepunkt auf, bevor es wieder in die Stille zurückgleitet. Das Harbin Symphony Orchestra spielte es unter Fischer-Dieskaus Leitung mit immenser expressiver Spannung und unentrinnbarem Schwebegefühl, das sich wie von Wagner intendiert in der Mitte des kurzen Werks plastisch in den strahlenden Farben der Blechbläser entlud.

Für das Lohengrin-Vorspiel unterwies Fischer-Dieskau die Musiker bei den Proben in Furtwänglers Methode des „inneren Zählens“. Jeder Spieler war verpflichtet, jede Viertelnote innerlich in vier Sechzehntelnoten zu unterteilen und dabei still zu zählen, um Furtwänglers monumentales, langsames Tempo mit struktureller Klarheit zu unterfüttern. Diese Herangehensweise ermöglichte es dem Orchester, zu Beginn ein atemberaubendes Klangspektakel zu zaubern und im Mittelteil eine donnernde und tief bewegende Stärke zu entfesseln.

In der zweiten Hälfte des Konzerts stand das Herzstück des Abends: Robert Schumanns Symphonie Nr. 4 d-Moll. Dieses Werk bildet ein entscheidendes Bindeglied innerhalb des erweiterten thematischen Rahmens der von Martin Fischer-Dieskau initiierten Konzertreihe „Melodies of the Masters: Tribute to Furtwängler“. Es verbindet beide Folgen dieser Reihe, indem vorausgesetzt werden darf, dass sich Schumann an Schubert, der am ersten Abend erklang, inspirierte, sich gleichsam von Schubert motivieren ließ. Erst nachdem Schumann das Manuskript von Schuberts großer C-Dur-Symphonie nämlich auf einem Wiener Dachboden entdeckt und das Werk später unter Mendelssohns Leitung gehört hatte, beschloss er, selbst Sinfonien zu komponieren. Auf Schuberts Große C-Dur-Symphonie letzten Herbst sollte jetzt also die Vierte von Schumann folgen (die eigentlich seine Erste war). Ob sich daraus sogar ein Zusammenhang mit Furtwänglers großer Liebe für diese beiden Werke herleiten läßt?

Furtwängler war jedenfalls der Meinung, dass Schumanns Vierte nur durch Schuberts großes C-Dur voll legitimiert und verstanden werden könne, und es waren seine visionären Interpretationen, die den beiden Symphonien einen Platz im Weltkulturerbe der Furtwänglerschen Tonaufnahmen sicherten.

Für Furtwängler war Schumanns Symphonie ein Beispiel für sein Konzept der „großen, atmenden Bögen“, eine Vorstellung, die die vier Sätze nicht als unabhängige Einheiten, sondern als Emanationen einer einzigen einheitlichen „Phantasie“ deutete.

Schumanns Musik ist von wiederkehrendem musikalischen Material geprägt. Es handelt sich um Phantasien in symphonischer Perpektive. Fischer-Dieskau und das Harbin Symphony Orchestra zeigten diese Qualität bereits in der Eröffnung mit ihrer von verschwommener, traumhafter Schönheit durchdrungenen Atmosphäre, die anschließend der gesamten Aufführung erhalten blieb.

Die Frage der Orchestrierung in Schumanns Sinfonien ist seit langem Gegenstand von Debatten und führte zu Überarbeitungen und Retuschen durch spätere Dirigenten wie beispielsweise Gustav Mahler oder George Szell. Furtwängler bildete keine Ausnahme, nur hörte man es nicht. Furtwänglers Schumann klang wie originaler Schumann. Erst seine Dirigierpartitur offenbarte, dass auch Furtwängler den epoche-üblichen Retuschen nicht auswich. Martin Fischer-Dieskau ging für diese Aufführung mit strenger wissenschaftlicher Disziplin ans Werk und setzte sich umfassend mit eben jener, von Furtwängler über Jahre verwendeten Schumann-Partitur auseinander. Er untersuchte und verglich Furtwänglers Studioaufnahme mit den Berliner Philharmonikern (14. Mai 1953) und seinen Live-Auftritt beim Luzern-Festival (26. August 1953). Die in Harbin präsentierte Interpretation spiegelte diese eingehende Forschung wider und zielte darauf ab, Furtwänglers generative Ästhetik durch die Behandlung von Tempoübergängen, Phrasenformung und tonaler Architektur zu verdeutlichen. Ziel war es, Furtwänglers Interpretationsrahmen so getreu wie möglich zu rekonstruieren.

Der erste Satz begann mit einer deutlichen Anpassung der Orchestrierung: Die ausgedehnten Oboenlinien wurden weggelassen, wodurch die oft dichten Holzbläsertexturen in Schumanns ursprünglicher Besetzung reduziert wurden. Ähnlich verhält es sich in den entscheidenden Takten 30–34, wo das Hauptthema allein der Flöte anvertraut wurde und die Oboen-Kontralinie entfernt wurde. Dies führte zu einer raffinierteren und lyrischeren Darstellung des Themas, wobei die Oboe in Takt 35 wieder einsetzte, um den horizontalen Verlauf der musikalischen Textur zu bereichern. Der Einsatz von Pauken zur Verstärkung des dynamischen Gewichts in verschiedenen Passagen spiegelte Orchesterüberarbeitungen Furtwänglers wider, die bei der Schubert-Aufführung im vergangenen November im selben Rahmen zu hören waren, und vertiefte die Wertschätzung des Publikums für Furtwänglers musikalische Ästhetik weiter. Das Tempo des gesamten Satzes war insgesamt eher ‚gemessen‘, und unter Fischer-Dieskaus Leitung fügte sich dieser Schumann nahtlos in das Gefühl des Schwebens, das schon die erste Hälfte des Konzerts bei Wagner gekennzeichnet hatte. Fischer-Dieskaus sorgfältig ausbalancierte Accelerandi in den Übergangs- und Steigerungspassagen verschärften dabei die dramatische Spannung und die emotionalen Kontraste der Symphonie.

Im zweiten Satz muss auf Fischer-Dieskaus tiefen Einblick in die phantasievolle Umsetzung gewisser Furtwängler-typischen Markierungen hingewiesen werden. Besonders hervorzuheben: Konzertmeister Shuaishuai Lin, dessen souveräner und strahlender Geigenton den vollen lyrischen und romantischen Charakter von Schumanns ausgedehntem, triolenbeladenem Solo zur Geltung brachte und die volle Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog.

Das folgende Scherzo des dritten Satzes offenbarte eine weitere Facette von Schumanns Persönlichkeit, die in starkem Kontrast zur Lyrik des zweiten Satzes stand. Meisterhaft gestaltete Fischer-Dieskau diesen Kontrast, der auch in den lebhafteren Abschnitten eine poetische Sensibilität bewahrte. Zugleich behielt er Furtwänglers Prinzip der „langen Atembögen“ bei und sorgte dafür, dass der dem Satz innewohnende tänzerische Charakter strukturell kohärent blieb.

Noch ein Wort zu Furtwänglers Posaunen-Behandlung: Auffällig ist auch hier wieder eine direkte Verbindungslinie von Schuberts Großer C-Dur-Symphonie zur Vierten von Schumann. Die mahnungsvolle Signalwirkung eines wiederkehrenden Posaunenmotivs in den ersten Sätzen beider Symphonien verlängerte Furtwängler in beiden Symphonien durch längeres Aushalten der Schlusstöne. Eine kolossale Wirkung, die Fischer-Dieskau natürlich nicht entgangen war. Unter seiner Leitung setzte die Posaunengruppe des Harbin Symphony Orchestra diese Ästhetik kraftvoll um – robust, resonant und durchdrungen von der interpretatorischen Linie, die zu den im Grunde unnachahmlichen Furtwängler-Eigenheiten gerechnet werden darf.

In der Coda des Finalsatzes diente eine fast manische Beschleunigung nicht nur als Höhepunkt, sondern auch als bewusster Akt der Rückschau, Hommage und Übertragung, die Furtwänglers interpretatorisches Ethos durch Fischer-Dieskaus eigene Darstellung anschaulich zum Leben erweckte.

Das Harbin Symphony Orchestra, das in Chinas noch junger Orchestertradition verwurzelt ist, besteht aus Musikern, die wie in vielen der aufstrebenden Musikkulturen oft darauf konditioniert wurden, den musikalischen Beruf eher als Broterwerb denn als künstlerische Berufung oder persönliche Offenbarung zu empfinden. Diese Anschauungsweise kann jedoch leicht zu einer gewissen emotionalen Distanz führen. Das Konzert am 9. Mai stellte diesbezüglich eine mächtige Ausnahme dar. Die Werke von Wagner und Schumann entfachten diesmal ein seltenes Feuer im Ensemble wie im Publikum. Martin Fischer-Dieskau vertrieb durch seine künstlerische Praxis an diesem Abend die Schatten der Gleichgültigkeit – und bewies, was einst in Toscaninis Ära kolportiert wurde, dass „Angst“ vor dem und Ärger über den Maestro zwar ein Bindemittel für orchestrales Potenzial gewesen sein mochte, dass aber Gleichgültigkeit in keinem Falle je wahre Musik hervorgebracht hat. Gleichgültigkeit bleibt in der Kunst noch immer die unangebrachteste aller Prämissen.